Geschichte Unser Okerstand

[Harzkäse]
[Das Wappen] [Übersicht] [Vorgeschichtliche Funde] [Ein Blick durch das Kaleidoskop] [Aus alten Urkunden] [Kurzer einfeltiger nothwendiger Bericht] [Der Harzer hat das Käsebacken überdauert] [Rundgang durch das alte Dorf] [Entwicklung der Landwirtschaft] [Der grosse Hof] [Die Flurnamen] [Geschichten aus dem Knauf] [Doch einen Bahnhof wollten sie nicht] [Warum Immenrode keine Badeanstalt bekam] [1000 Jahre dazwischen] [Als der Krieg zu Ende war] [Doeneken] [Unser Okerstand] [Viele Bruennlein fliessen] [Wieder Chancen für die Weddekrebse] [Das Ende 886 Jahre nach der ersten Währung] [Einigkeit macht stark] [Wer will fleißige Handwerker sehn] [Hol mir mal die Suelzepresse] [Über 100 Jahre Schützentradition] [Brieftaubensportverein ‚Harzbote-Immenrode‘]


(Karl-Heinz Impe)

Viele Menschen meinen, die „Probsteiburg« – heute Haus der »Lebenshilfe« – gehöre zum Gebiet der Stadt Goslar. Diese Annahme ist falsch. Die Probsteiburg gehört zwar postalisch nach Goslar, war aber schon immer ein Ortsteil von Immenrode und ist auch in der Immenröder Flur gelegen. Die Oker bildet im Süden die Gemarkungsgrenze zwischen Immenrode und Harlingerode. Über die Entstehung des Namens „Probsteiburg“ liegen keine genauen Erkenntnisse vor. In dem Buch „Befestigungsanlagen im und am Harz von der Frühgeschichte bis zur Neuzeit“ von Friedrich Stolberg (erschienen im Jahre 1968) ist zu lesen: ,’Goslar Probsteiburg, Burgstelle? Baugrund Hercynische Schotter des Diluvium. Beschreibung: Bisher keine Reste festgestellt.«

A. Grundner-Culemann (»Die Flurnamen des Stadtkreises Goslar«) erwähnt Probsteiburg unter dem Namen „Provestingheborch«, und den gleichen Namen findet man auch in Urkunden im Staatsarchiv Wolfenbüttel. In einer Karte aus dem Jahre 1811 findet sich der Name „Probbsterburg«, ab 1907 entspricht die Karteneintragung dann der heutigen Schreibweise. Es ist also nicht erwiesen, dass auf dem Gelände jemals eine Burg gestanden hat. Abwechslungsreich ist die Geschichte der auf dem Gelände von Probsteiburg stehenden Gebäude. Der in Harlingerode wohnende Rentner Paul Grubert hat von 1919 bis 1969 „auf Probsteiburg“ gearbeitet. Nach seinem Bericht hat der Besitzer eines Braunschweiger Bankhauses namens Frank 1880 einen Holzschleifbetrieb gebaut, der dann um die Jahrhundertwende an die Firma Klages aus Harlingerode überging und 1916 von dem Fabrikanten Schulze übernommen wurde.

Die Holzstofffabrik wurde, wie viele andere Betriebe im Okertal, durch Wasserkraft betrieben. Von der Oker wurde ein Stichgraben – er ist heute noch deutlich sichtbar – bis zur Probsteiburg geleitet. Bis zum Jahre 1914 wurden die Maschinen durch „große Wasserräder« angetrieben. Adolf Jerxsen, der ehemalige Gemeindedirektor, weiß von seinem Vater zu berichten, dass dieser als Arbeiter der Firma Weule, Goslar, mit dem Einbau von Turbinen beschäftigt war. Diese haben dann die Wasserräder ersetzt. In der Holzschleiferei wurde das angelieferte Tannenholz mit einem Ziehmesser abgeschält, in ca. 50 cm lange Stücke gesägt und mit einem großen Mühlstein völlig zerkleinert, so dass letztlich ein Holzbrei entstand, der gewalzt, in Stücke geschnitten und zu Ballen zusammengepresst wurde.

Bis zum Jahre 1928 wurde ausschließlich solch Holzstoff als Rohstoff für Papier und Pappe hergestellt. Wie aus alten Bauakten zu entnehmen ist, bestand das Fabrikgelände bis zum Jahre 1928 nur aus einem großen Gebäude (Wäscherei, Schleiferei, Geräteschuppen mit kleinen Anbauten) -. Als der Besitzer C. Heinrich Schulze den Entschluss fasste, die Fabrikation auszuweiten, wurde der Komplex um drei Anbauten und einem Lagerschuppen erweitert. Bis zum Jahre 1936 wurde dann neben der Fabrikation von Matratzen auch die Holzschleiferei weiterbetrieben, bevor sie dann abmontiert und in das Leinetal verkauft wurde.

Der fortschreitenden Motorisierung Rechnung tragend, wurde bereits 1930 auf dem Betriebsgelände eine eigene Tankstelle errichtet. 1931 wurden zwei weitere große Schuppen, 27 x 31 m groß, gebaut.
Der Betrieb expandierte. In den Jahren 1937 wurde eine Werkstatt gebaut, 1938 die Reißerei und Stepperei vergrößert und das Gefolgschaftshaus – in diesem Gebäude befindet sich heute der große Speisesaal – errichtet. Da eine „Stepp- und Daunendeckkenfabrik, Fabrik für Füllungen und Matratzen« (so war die offizielle Bezeichnung der Firma) auch für die Reichswehr fabrizierte, wurde sogar in den Kriegsjahren 1939 Erweiterungsbau, 1940/41 Stützmauer an der Oker (Hochwasserschutz) – weitergebaut. Die Betonbrücke über die Oker war im Jahre 1940 durch Hochwasser eingestürzt. Somit war die alte gewachsene Verbindung von Immenrode nach Harlingerode unterbrochen. Im Jahre 1942 wurde eine »Behelfsbrücke« aus Holz, Tragkraft nur 4 Tonnen, errichtet, um die für die Wehrmacht hergestellten Fabrikate – so die Begründung des Bauantrages – in Harlingerode verladen zu können. Für den allgemeinen Verkehr war die Brücke gesperrt. Es war eine reine >,Privatbrücke der Fa. Schulze« und musste laut Vertrag auch von der Fa. Schulze unterhalten werden.

Die alten Bauakten geben Aufschluss, wie eingehend Bauarbeiten in den Kriegsjahren auf ihre Notwendigkeit hin untersucht wurden. Es wurden nur Arbeiten genehmigt, die unumgänglich (wie Feuerschutz, Einsturzgefahr) oder kriegswichtig waren. Eingeschränkt wurden besonders Bauten bei denen viel Eisen oder Stahl verwendet werden musste. Abgesehen von der baurechtlichen, statischen und gewerberechtlichen Prüfung musste jedes Bauvorhaben mit Angabe des Zwecks und der Dringlichkeit, der Kosten, der Dauer der Arbeitszeit, der Anzahl der benötigten Kräfte, aufgeschlüsselt nach Handwerkern, Hilfsarbeitern usw., sowie der hierzu benötigten Baumaterialien, durch das Arbeitsamt genehmigt werden. Hierbei durften die Arbeiten nur von solchen Kräften ausgeführt werden, die ortsgebunden waren und nicht für kriegswichtige Bauvorhaben benötigt wurden. In den Bauakten konnte man – zwischen den Zeilen lesend – die planmäßige Vorbereitung des 2. Weltkrieges erkennen.
So wurde der Firma Schulze bereits im Jahre 1937 die Auflage gemacht, einen Luftschutzraum (Neubau) für 100 Personen zu erstellen. Die Schaffung von Luftschutzräumen, dies ist den Bauunterlagen zu entnehmen, war Voraussetzung für die Genehmigung der geplanten Baumaßnahmen seit 1938. Außerdem wurde die Industrie verpflichtet, Luftschutz- und Feuerlöschtrupps aufzustellen. So schrieb die Firma Schulze am 19. Juli 1941 an das Landratsamt in Goslar:
„Wir teilen Ihnen mit, dass die Feuerkraftspritze auf unserem Werk Immenrode N r. 117 – Probsteiburg, eingetroffen ist und der Feuerlöschtrupp aufgestellt ist. Wir benötigen für die Feuerkraftspritze einmalig 40 I Benzin und dann laufend monatlich eine kleine Zuteilung von 20 I, um durch wöchentliche Übungen jeweils am Freitag Nachmittag den Feuerwehrtrupp einzuexerzieren und mit der Kraftspritze vertraut zu machen. Gleichzeitig benötigen wir für den Feuerlöschtrupp 9 Feuerwehrhelme und 9 Overalls und bitten Sie, uns die Bezugscheine hierüber zugehen zu lassen«.

Im Verlauf des Krieges wurde dann das Benzin immer knapper, so dass wieder auf die alten Verkehrsmittel, die Pferdefuhrwerke, zurückgegriffen werden musste. So plante die Fa. Schulze im Jahre 1943 den Bau eines Pferdestalles. Hierzu schrieb die Fa. am 22.03.1943 an das Landratsamt Goslar:
»In der Anlage überreichen wir Ihnen nach erfolgter Rücksprache beim Hochbauamt angefertigte Bauzeichungen nebst Baubeschreibung in dreifacher Ausfertigung für einen Pferdestall.
In Anbetracht des Umstandes der isolierten Lage unseres Werkes, 7 km von Goslar, 6 km von Vienenburg,4 km von Harlingerode und 4 km von Immenrode, ohne Eisenbahn-, Autobus- oder Straßenbahnverbindung, und in Anbetracht der gegenwärtigen Benzinverknappung sind wir auf Pferdegespann- Verkehr angewiesen…«

In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten erlebte die »Steppdeckenfabrik« einen bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung. Viele Immenröder, vor allem Flüchtlinge, Vertriebene und überwiegend Frauen, fanden hier Arbeit und Brot. Und die »Steppdecke« war für unser finanzschwaches Dorf der größte Steuerzahler. Aber dann war der Markt gesättigt, durch die Zonengrenze gab es nach Osten kein Hinterland und nach Westen waren die Transportwege zu lang…
Der Betrieb geriet in Schwierigkeiten und musste 1970 Konkurs anmelden. Das war bitter für Immenrode. Arbeitsplätze und Gewerbesteuern gingen verloren. Bis zum Jahre 1972 versuchte man vergebens, die Gebäude an einen Nachfolger bzw. an einen anderen Industriebetrieb zu veräußern, jedoch ohne Erfolg.

Im Frühjahr 1972 konnte dann die Lebenshilfe e.V. in Goslar das gesamte Gelände erwerben. Sie begann sofort mit der Betreuung von jugendlichen und erwachsenen Behinderten. Zu Beginn waren es rund 50 Behinderte, die in den Werkstätten gefördert wurden. Bis Mitte 1976 dauerten die nötigen Umbauten, um die Gelände für die Arbeit mit behinderten Menschen in einen geeigneten Zustand zu versetzen. Parallel hierzu stiegen auch die Zahlen bei den Behinderten und den Mitarbeitern. Zur Zeit werden in der Probsteiburg 204 Behinderte von rund 40 Mitarbeitern gefördert und betreut. Im Rahmen der beschützenden Werkstätten wurden Arbeitsplätze in der Tischlerei, in der Schlosserei in der Druckerei, in der Elektromontage und in der Kleinteilmontagegruppe eingerichtet.
Je nach Art und Schwere der Behinderung sind die Arbeitsplätze individuell gestaltet und auf die Fähigkeiten der Menschen ausgerichtet. Die Lebenshilfe arbeitet mit zahlreichen Klein- und Großbetrieben der hiesigen Wirtschaft zusammen und bekommt immer wieder bestätigt, dass die von den Behinderten gefertigten Arbeiten ein hohes Maß an Qualität haben.

Darüber hinaus kommt im Rahmen der Förderung und Betreuung der Behinderten auch der Freizeitbereich nicht zu kurz. Unter tätiger Mithilfe einiger Eltern wird an jedem Werktag nach Feierabend gebastelt. Die Erzeugnisse werden auf Basaren oder im Werkstattladen verkauft. Im Rahmen des regelmäßigen Sportunterrichts werden Gymnastik, Spiele und Schwimmen angeboten. Hinzu kommt Krankengymnastik oder Einzelkuren bei entsprechender Behinderung.
Insgesamt, so Herr Lüttge, der Geschäftsführer der Lebenshilfe, ist es in nunmehr fast 14 Jahren gelungen, für den Großteil der geistig behinderten Menschen aus dem gesamten Landkreis Goslar eine Stätte zu schaffen, wo sie entsprechend ihrem Leistungsniveau einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen können. Dadurch werden sie in ihrem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl gestärkt, erleben Anerkennung und können sich als wichtige Glieder unserer Gesellschaft verstehen.